Mit dem Dialekt näher dran an den Menschen- Sechs Autorinnen und Autoren aus vier Ländern beteiligten an der 28. Ausgabe der internationalen Schopfheimer Mund-Art-Literaturwerkstatt zum Thema Flucht

Geschrieben: 1. April 2016 | Autor: | Kategorisiert unter: Allgemein | Keine Kommentare »

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Beim Klettern ist es wie beim Schreiben, sagt die österreichische Lyrikerin Birgit Rietzler, die in ihrer Freizeit gerne klettert: Jeder Schritt und jedes Wort muss genau überlegt sein. Dieser sorgsame Umgang mit der Sprache gilt auch und besonders für das Schreiben in Mundart, wie sich bei der 28. Ausgabe der Internationalen Schopfheimer Mund-Art-Literaturwerkstatt wieder einmal zeigte.

Sechs Autorinnen und Autoren aus vier Ländern machten sich Gedanken über das Werkstattthema: Sprache – Fluchtpunkt – Sprache. Ist das Dichten in Mundart eine Flucht vor der gängigen Schriftsprache? Und wie setzen sich Mundartautoren mit dem Thema Flucht auseinander? Beides klang bei der Lesung in St. Agathe in Schopfheim an, die Moderator Volker Habermaier mit weit reichenden Gedanken über die aktuellen Kriege, die Flüchtlingsschicksale, die Meinungslage in Deutschland zwischen „Wir schaffen das!“ und „Grenzen zu!“ eröffnete. Die von Habermaier wunderbar persönlich vorgestellten Autorinnen und Autoren machten mit ihren Gedichten und Prosatexten deutlich, dass sich im Dialekt genauso gut über das Leben und die drängenden Themen der Zeit schreiben lässt wie in der Hochsprache, ja sogar individueller, weil näher dran am Menschen.

Birgit Rietzler las ihren Beitrag „Saida und i“, feinfühlige Geschichte über den Besuch bei einer Asylantin, die Deutsch lernen will in einem Dorf, in dem sich die Leute das Maul über Ausländer zerreißen. Max Faistauer, der „Doyen der Salzburger Mundartliteratur“, hat in seinem Text die Sprachen, mit denen ein syrischer Flüchtling auf seiner langen Flucht bis nach Salzburg konfrontiert wird, collageartig verwoben: Grußformeln, kurze Sätze in Arabisch, Türkisch, Griechisch, Serbokroatisch, Österreichisch. Heiko Gauert aus der Nähe von Eckernförde erzählt in seiner in Plattdeutsch verfassten Geschichte „Tweireten“ (Zerrissen) von einem Mann, der durch eine Fassbombe aus seiner Heimat vertrieben wird, und auf der Flucht Stimmen hört, die er nur als Summen wahrnimmt. Eindringliche Texte über Menschen auf der Flucht.

Für die Zuhörer war es spannend, sich auf die verschiedenen Sprachfelder zu begeben, sich ungewohnte Dialekte wie plattdeutsch oder pinzgauerisch über den Sprachklang zu erschließen. „Ihr Beifall bestätigt mir, dass die meisten das Meiste verstanden haben“, sagte Max Faistauer nach seinem Text „An Grabn grabn“, in dem er beschreibt, wie die alltäglichen Probleme die globalen glatt verdrängen. Der Österreicher beeindruckt auch mit Kehlkopfakrobatik und knappen Gedichten, in denen er das Leben in all seinen Facetten hochkonzentriert erfasst. So wie in dem Titelgedicht aus dem Band „Oiss gsagg“: „Nix gredt und doh oiss gsagg“. Heiko Gauert, sein Kollege aus dem Norden, hatte die Kurzgeschichte „Dat segg ik ok al jümmers“ (Ich sag das auch immer) aus dem NDR-Wettbewerb „Erzähl doch mal“ im Manuskriptgepäck. Darin geht es um eine Frau, die mit einer anderen Frau ein Problem besprechen möchte, aber nicht zu Wort kommt.

Vertraut für hiesige Ohren klang das Baseldütsch der Liedermacherin, Sängerin und Poetin Jacqueline Schlegel. Ihre Chansons haben Kraft, Trotz und Verve und eine wunderbare Mischung aus Humor und Ernst. So sang sie mit leidenschaftlicher Stimme ein Minnelied aus Sicht der Frau von heute und nahm in ihrem „Crashkurs in Selbstmitleid“ Schwärmerei, Sehnsucht und Liebeskummer von der witzig-selbstironischen Seite. Mitreißend singt sie von der Sehnsucht nach fremden Ländern, Gerüchen und Welten. Ihr Lied über eine Fahrradfahrt durch einen nächtlichen Wald steigert sich zu atemloser Dramatik.

In menschliche Abgründe ließ der elsässische Gast Pierre Kretz blicken, der Auszüge aus seinem Buch „Ich ben a beesi Frau“ las. In diesem Prosa-Monolog einer bösen Frau offenbart sich erst nach und nach, warum die Ich-Erzählerin so hart und feindselig geworden ist und das Grab ihres Mannes verwildern lässt. Der Straßburger Autor, der auch Romane und Theaterstücke schreibt, packt die Zuhörer mit den Geständnissen einer Frau, deren Herz „schon lange leer ist“.

Werkstattleiter Markus Manfred Jung nahm sich sensibler Themen wie Asyl, Flucht, Verantwortung, Älterwerden und Vergänglichkeit an und machte hörbar, wie komprimiert, komplex und sprachlich ausgefeilt er diese Gedanken über Leben und Tod in alemannischer Mundartlyrik reflektiert. In „S’Lebe“ vergleicht er das Leben mit einem Kartenspiel: „Gege de Tod chasch nit gwinne“.

 

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mit frdl Genehmigung der BZ.


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